„Marie ist ganz allmählich verschwunden“

Wie lebt es sich an der Seite einer Partnerin, die an Demenz erkrankt? Marike Stern beschreibt in ihrem Buch ihr Leben mit Marie - bis zum Schluss.

Leben im AlterTeilhabe

Marike Stern hat ihre Ehefrau Marie etwa zehn Jahre durch die Demenz begleitet – ein langer Weg durch Leid und Trauer. Als diese ihren Körper endgültig verlässt, bedeutet das für Marike nicht der endgültige Verlust, sondern die Vollendung eines langen gemeinsamen Weges.

 

Wie geht es Ihnen heute?

Gut. An meiner Seite ist wieder ein Lebewesen, eine junge Hündin. Ich bin in eine kleine Wohnung über den Dächern Wuppertals umgezogen. Es ist ein gutes, stilles Leben.

Wann begannen Sie zu bemerken, dass etwas mit Ihrer Frau nicht stimmt?

2010 nahm ich erste Irritationen wahr. Damals waren wir neun Jahre zusammen. Ich begann etwas zu vermissen. Marie schien seltsam fern, ihr Interesse an mir und anderen wurde schwächer, ihre Kreativität und Lebenslust verloren sich und ihre Emotionen verflachten. Es fühlte sich an, als würde die Buntheit und Fülle aus unserem Leben verschwinden. Manchmal schien alles wie immer, dann war es verstörend und seltsam. Ich dachte öfter an Demenz - weil Maries Vater mit Anfang 50 schon daran erkrankt war. Trotzdem fühlte sich das, wie Marie war, anders an. Ihr Gedächtnis war vollkommen in Ordnung. Sie wurde eher schroff und kühl. Oft dachte ich, wir haben ein Problem. Wir müssen etwas tun – eine Therapie? Aber Marie selbst nahm keinerlei Veränderung an sich wahr. Dieser Zustand dauerte etwa vier bis fünf Jahre. Unser Leben wurde leer und Marie mir immer fremder.

Wie machte sich diese Entfremdung bemerkbar?

Maries Interesse an unserem gemeinsamen Leben nahm immer mehr ab. Sie überlies mir immer mehr die Verantwortung für den Haushalt. Selbst ihr früher so geliebter Garten war ihr nicht mehr wichtig. Wenn wir mit unserem Campingbus wegfuhren, packte ich allein. Ich verstand erst mit der Zeit, dass sie nicht mehr wusste, was wir mitnehmen müssen. Irgendwann begrüßte sie mich nicht mehr an die Tür, wenn ich nach Hause kam. Sie blieb einfach vor dem Fernseher sitzen – vorher ein undenkbares Verhalten. Mir fiel auf, dass Marie Schwierigkeiten hatte, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, und sie war nicht mehr in der Lage neue Informationen zu verarbeiten.

Wie gestaltete sich der Alltag mit ihr?

Ich wurde einsam und litt unter Maries Verschwinden. Natürlich habe ich versucht, mit ihr zu sprechen, beklagte mich und war wütend und verzweifelt. In dieser Zeit haben wir oft fürchterlich gestritten. Aber sie konnte mich nicht verstehen. Stattdessen sagte sie: „Hör doch auf mit dem Weinen“ oder sie ließ mich einfach sitzen. Gefühle jeder Art wurden ihr unangenehm. Auch Körperkontakt lehnte sie mehr und mehr ab, bis zum völligen Rückzug, ohne das erklären zu können. Ebenso im Alltag gab es immer mehr Probleme für Marie. Sie klammerte sich zwanghaft an vertraute Rituale und Gewohnheiten. 2015 war ich sicher, dass Marie krank ist und auch für ihre Kinder war ihre „Mama“ nicht mehr da. An Gesprächen beteiligte sie sich kaum noch. Sie kaufte komische Dinge oder bezahlte einfach nicht an der Kasse, hatte aber nie das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich begann unseren Alltag zu gestalten, weil Marie keine Initiative mehr ergriff. Sie saß einfach nur da. Wirkte aber nie unglücklich. Da sie immer gern gemalt hat und zahlreiche Instrumente spielte, bot ich ihr diese Beschäftigungen an.

Wir gingen regelmäßig zum meditativen Tanzen, sangen jeden Abend die gleichen Lieder, nachmittags wanderten wir zu Fuß in unseren Kleingarten. Marie pflückte dort mit Hingabe die schönsten Blumensträuße. Diese Zeit war schön und sehr intensiv. Gleichzeitig spürte ich schmerzhaft, dass meine geliebte Marie immer mehr verschwand. Anfang 2017 kam dann die Diagnose: die sehr seltene Frontotemporale Demenz. Ich strukturierte unsere Tage mit Hilfe von Betreuungskräften noch stärker durch. Marie braucht jetzt auf allen Wegen Begleitung und kleinste Veränderungen im Tagesablauf oder in Handlungsabläufen führten zu fast unüberwindbaren Schwierigkeiten. Ende 2017 habe ich mich für eine Tagespflege entschieden. Aber selbst damit stießen wir an Grenzen. Wenn der Bus morgens um neun Uhr kommen sollte, stand Marie schon Stunden vorher unten, egal ob es regnete oder eiskalt war. Zeit war bedeutungslos für sie. Ich habe uns an solchen Tageszeiten in der Wohnung eingeschlossen. Dann suchte sie den Schlüssel, schlug vor die Tür und wollte raus. Ich bekam Angst und spürte, dass ich diesen Kräften nicht mehr gewachsen war.

Da waren Sie an dem Punkt gelangt, an dem eine räumliche Trennung erfolgte. Eine Heimunterbringen wurde notwendig.

Es dauerte, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich Marie nicht retten konnte und dass ich unser gemeinsames Dach über dem Kopf aufgeben musste. Sie brauchte mehr Halt und Sicherheit und mehr Freiheit. Als dann in einem kleinen Heim in der Nähe ein Platz frei wurde, habe ich mich entschieden und Marie zog im März 2018 um. Ich war fast jeden Tag bei ihr und wir lebten dort gemeinsam weiter, so wie es möglich war.

Wie haben Sie die ärztliche Diagnose aufgenommen, als Maries Erkrankung „offiziell“ wurde?

Die Diagnose überhaupt zu bekommen war das Problem. Bis 2017 konnte ja niemand etwas Genaues feststellen. Leichte kognitive Veränderungen, das MRT zeigte auch nichts Typisches. Die Alzheimer-Tests hatte Marie lange mit Bravour bestanden. Viele Ärzte haben zu mir gesagt: „Akzeptieren Sie das. Beziehungen verändern sich nun mal mit den Jahren. Das ist ganz normal.“ Und als die Diagnose dann da war, war ich nur froh, aus diesem Schwebezustand heraus zu sein. Dass Marie krank war, wusste ich schon längst.

Wann hat sie es endlich selbst realisiert?

Es gibt zwei Schlüsselsituationen, in denen Marie mit großer Klarheit, ihre Situation beschrieben hat. Sie saß einmal zu Hause auf dem Sofa und sagte ohne Bedauern: „Ich habe nicht mehr viele Möglichkeiten. Ich kann stricken, malen und Klavierspielen.“ Die andere Situation ereignete sich 2019 im Heim. Marie malte an ihrem Tisch und ich sprach sie an: „Marie!“. Sie schaute mich vollkommen klar an und sagte ohne jede Regung: „Nein, da ist nichts“, wandte sie sich wieder ihrem Bild zu und malte weiter. 

Warum sind Sie nicht gegangen, sondern haben die Situation über Jahre ertragen?

In der ersten Zeit habe ich mit mir gerungen, ob ich bleibe, weil ich glaubte, wir hätten nur ein Beziehungsproblem. Als ich begriff, dass sie krank wurde, wollte ich mit aller meiner Kraft, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen. Die meisten Freunde und Bekannten haben das nicht verstanden. Aber es war mein Weg. Etwas in mir wusste, dass es etwas gibt, das bleibt. Das wollte ich suchen.

War ihr Tod dann eine Erleichterung?

Abschied von Marie und unserem Leben hatte ich über Jahre genommen. Als Marie gestorben ist, war es leicht und es geschah im vollsten Einverständnis unserer Herzen. Sie wurde Anfang 2020 körperlich schwächer. Ich wusste, dass sie bald gehen würde. Oft sprach ich mit ihr darüber. Sagte ihr, dass ich beim Bestatter war und auf der Bank, dass alles geregelt sei. Ich bin sicher, dass „etwas“ in ihr verstanden hat. Sie selbst wurde in den letzten Wochen still und sanft. Ihre enorme Widerständigkeit, die sie stets körperlich bewiesen hatte, ebbte ab, wie das Meer, das sich nach einem Sturm beruhigt hat.

Können Sie diese Phase des Übergangs näher beschreiben?

Wir haben alles hingegeben, was wir waren und was wir hatten und wurden eins mit dem, was ist. Aller Widerstand verschwand und dann öffnete sich eine neue Tür. Jenseits von Verstand und Denken und jenseits unserer Persönlichkeit und Biographie fanden wir uns als das, was wir zutiefst sind und immer waren: als reine Liebe. Das geschah ohne Worte, denn Marie verstand Sprache kaum noch. Es waren Augenblicke, in denen wir uns nur in die Augen schauten. Oder beim Singen und Musizieren, wenn der Klang unserer Stimmen oder der Instrumente eins wurde.  

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Erlebte in Form eines Buches für die Öffentlichkeit zu verfassen?

Anfangs brauchte ich das Schreiben, um meinen Schmerz auszudrücken. Allmählich spürte ich: Da wächst etwas heran. Unsere Freundin Brit vom Stein hatte uns all die Jahre über fotografisch begleitet. So entstand die Idee, ihre Fotos und meine Texte in eine Form zu bringen.

Der Buchtitel „DeMens – ein Weg ins Leben“ erscheint widersprüchlich. Denn für die meisten bedeutet das ja der Anfang vom Ende. Was soll der Leser Ihres Buches mitnehmen?

„De – Mens“ ist dem Lateinischen entlehnt und bedeutet „jenseits von Denken und Verstand“. Genau in dieser Welt ohne Ratio haben wir Leben gefunden. Die Krankheit „Demenz“ wurde für uns zur Tür in ein neues Bewusstsein, das uns unser tiefstes Sein offenbart hat: Liebe. Sie stirbt nicht und deshalb bin ich seit Maries Tod keinen Augenblick allein, denn wir sind und bleiben Eins in dieser Liebe.

 

Das Buch „DeMens – ein Weg ins Leben“ ist im Selbstverlag erschienen und kann auf der Webseite www.demens-einweginsleben.de zum Preis von 20 Euro zzgl. Versandkosten bestellt werden.

Bildrechte: Brit vom Stein